"Dem Himmel verbunden"

Kapitel 1

 

Das letzte Kind wurde vor 10 Minuten aus unserer Einrichtung abgeholt und bevor ich in den Feierabend starten kann, habe ich noch einiges zu erledigen.

Ich laufe durch alle Räume des Kindergartens und schaue, ob die Fenster geschlossen sind. Ich bin heute allein hier im Haus und darf nichts übersehen. Dann sammele ich in meinem Gruppenzimmer die verteilten Spielsachen ein und räume sie in die dafür vorgesehenen Körbe. Diese stelle ich in das große Regal und hebe die kleinen Stühle auf die Tische. Das mache ich, damit die Reinigungskraft, die morgens noch vor uns da ist, etwas Zeit einspart. Es ist eine ganz liebe Person und wenn es uns möglich ist, greifen wir ihr gern unter die Arme. Ich schaue mich noch einmal um und nehme meine Tasche. So wie ich mit Freude zum Schichtbeginn den Kindergarten betrete, so froh bin ich, einen verdienten Feierabend zu genießen.

Zurzeit ist es sehr heiß und wir haben seit 2 Wochen fast täglich mehr als 30 Grad. So habe ich die letzten Tage jeden Abend auf meiner Terrasse verbracht, bei einem kalten Getränk und guter Musik.

Ich bin Single, aber momentan kann ich mir nichts anderes vorstellen. Die Kinder, die ich täglich betreue, füllen meine Leben vollkommen aus. Für diesen Beruf habe ich mich entschieden, weil ich Kinder über alles mag. Mit ihnen zu spielen und vieles beizubringen habe ich mir zur Aufgabe gemacht.

Mit den Gedanken an wieder einen schönen Abend, schließe ich die Haupttür, nachdem ich die Alarmanlage scharf geschaltet habe. Weil ich die letzten zwei Stunden allein mit den Kindern war, hatte ich keine Zeit, aus einen der vielen Fenster zu schauen. Jetzt stehe ich auf dem Spielplatz vor dem Kindergarten, wo wir heute gerade mal eine Stunde mit den ihnen waren, weil es wieder zu heiß geworden ist. Zum Schutz der Kinder entschieden wir uns die Zeit in den klimatisierten Räumen zu verbringen.

Nun geht mein Blick hinauf zum Himmel und mir schwant Übles. Eine fast schwarze Wolkenwand kommt genau aus der Richtung, wo der Heimweg entlang führt. Warum bin ich nicht mit dem Auto gefahren? Gerade heute bin ich gelaufen und nun das nahende Unwetter.

Ungefähr fünfzehn Minuten brauche ich bis nach Hause, vielleicht zwölf, wenn ich mich beeile. Oder noch weniger, dann muss ich aber durch den Park laufen. Ungünstig bei den vielen hohen Bäumen. Man bekommt das doch schon als Kind gesagt, dass die Blitze gerade da einschlagen können und wir predigen es heute selbst den Kleinen.

Gefährlich? Wenn ich schnell genug bin, könnte ich es schaffen und höre nicht auf meine innere Stimme, die augenscheinlich etwas dagegen hat. Ich verbanne sie ganz nach hinten in den Kopf, entscheide mich für den Park und laufe los. Wenige Minuten später bekomme ich schon die ersten Tropfen ab. Einen Schirm habe ich natürlich nicht, warum auch, es hat tagelang nicht geregnet. Er liegt in meinem Auto, wo man ihn am wenigsten braucht. Ich würde mir am liebsten in den Hintern beißen. Warum bin ich heute früh nur auf Arbeit gelaufen.

Ganz einfach. Es war zu heiß und ich bin zeitig aufgestanden. Die Hitze und der Schweiß auf meinem Körper haben mich aus dem Bett getrieben. Ich hatte so viel Zeit wie lange nicht mehr. Eine wohltuende Dusche und ich fühlte mich wie ein neuer Mensch. Mit einer Tasse Kaffee und einem Croissant habe ich den Sonnenaufgang auf meiner Terrasse genossen. Die klare Morgenluft und das Zwitschern der Vögel nehme ich ansonsten gar nicht wahr. Aufstehen, kurzes Frühstück und mit dem Auto auf Arbeit. So sieht es eigentlich tagtäglich aus.

Heute wurde mir klar, was ich so alles verpasse. Wie den kleinen Spatz, der anscheinend so hungrig war, dass er ganz nahe an meinen Füßen ein paar Krümel von dem Croissant aufpickte. Zudem flog mein Blick über den Garten, der nicht zu groß ist und darüber bin ich froh, denn ich habe wenig Zeit mich darum zu kümmern. Die Rosen blühen in voller Pracht und an den Hortensien sind so viele Blütenbälle, dass man sie kaum noch zählen kann. All das habe ich meinen Eltern zu verdanken. Plötzlich kamen Gedanken in mir hoch und mein Herz wurde schwer und ich musste an das Unglück vor zwölf Monaten denken. Da sind sie durch einen Autounfall viel zu früh gestorben. Ich habe das hübsche und sehr gepflegte Haus geerbt und bin nach zehn Jahren wieder in mein ehemaliges Heim eingezogen. Zwischendurch hatte ich eine kleine Wohnung, nur ein paar Straßen weiter.

Ich sollte wohl öfter an ihnen gedenken. Wie schnell ist das Jahr vergangen und der Alltag hat mich wie gehabt in sich gefangen. Viel Arbeit kann von dem Schmerz ablenken, aber irgendwie öffnet sich immer wieder mal das tiefe Loch und du drohst abermals einzustürzen. Meine Freundin Thea ist bis heute stets diejenige gewesen, die mir zurück auf die Beine geholfen hat. Wir haben uns im Kindergarten kennengelernt und in den letzten acht Jahre sind wir zu besten Freundinnen geworden.

Heute früh war ich gehalten allein klarzukommen. Thea hat Frühschicht und somit ist sie schon auf Arbeit. Die angenehme Morgenfrische brachte mich letztendlich dazu, das Auto stehen zu lassen. Zu einem konnte ich den Kopf freibekommen, die Gedanken an meine Eltern wieder in den Erinnerungen ablegen und zudem hatte ich keine Einkäufe zu erledigen.

Ein unbehagliches Gefühl und ein quietschendes Geräusch holt mich zurück in die Gegenwart. Der Weg ist inzwischen schon mit Wasserlachen übersät und ich selbst bin bis auf die Haut durchnässt. Die Sandalen fühlen sich aufgequollen an und es drückt bei jedem Schritt Wasser durch meine Zehen. Ich bleibe stehen und ziehe sie kurzer Hand aus. Die kleinen Kieselsteine unter den Fußsohlen piksen zwar etwas, aber ich habe es nicht mehr weit. Die Bäume lichten sich schon und ich erkenne die Laternenlichter von der Straße, auf die ich zulaufe.

Ein Blitz zuckt in den immer dunkler werdenden Wolken und ich werde automatisch schneller, ohne auf meine Füße zu achten. Aber ich werde abgelenkt, denn es kommt mir jemand entgegen. Ein junger Mann, den Kopf eingezogen, als würde das gegen den immer stärker werdenden Regen helfen und ebenso durchnässt wie ich, jedoch läuft er wesentlich langsamer.

Fast auf gleicher Höhe, hebt er seinen Kopf an und unsere Blicke treffen sich. Er lächelt mich verschmitzt an und ich kann mir denken warum. Seine Augen schweifen kurz über meinen ganzen Körper. Das T-Shirt klebt an meiner Haut und zeigt wahrscheinlich alles, was sonst verborgen ist. Ich mach mir darüber keine weiteren Gedanken, denn ich bin an seinen leuchtenden Augen gefesselt. Für einen Moment bleibt die Zeit stehen und es sind nur noch zwei Schritte, bis wir aneinander vorbeigehen. Dann nur noch einer und ich werde ihn vielleicht nie wiedersehen. Soll ich ihn ansprechen? Nein, er ist sicher vergeben. So ein wunderschönes Exemplar von einem Mann ist bestimmt nicht mehr zu haben. Am Ende mach ich mich nur lächerlich, aber faszinierend ist der Typ schon. Außerdem sollte ich mich sputen, denn die Temperatur ist schnell gesunken und ich fange an zu zittern.

Weiter komme ich jedoch mit meinen Gedanken nicht. Ich höre plötzlich ein Knistern in der Luft und ehe ich überlegen kann, woher es kommt, folgt ein lauter Knall. Ich nehme noch wahr, dass wir beide uns direkt gegenüberstehen, als es mir die Füße unter dem Körper wegreißt. Wie ich falle, merke ich nicht mehr, denn es ist nur noch schwarz um mich herum und eine unheimliche und angstmachende Stille hüllt mich ein.

 

 

Langsam spüre ich meinen Körper wieder. Die Augen kann ich nicht öffnen, die Lider sind zu schwer, aber die Finger lassen sich minimal bewegen. Ich bemühe mich, die Kontrolle über meinen Körper zurückzugewinnen, jedoch bleibt es vorerst ein Versuch.

Hallo Süße. Hörst du mich?“, fragt jemand und ich erkenne sofort die Stimme meiner besten Freundin Thea.

Ich hebe die Hand leicht an, um ihr zu zeigen, dass ich sie wahrgenommen habe. Mehr ist nicht möglich, ich habe einfach keine Kraft.

Es wird alles wieder gut“, redet sie sanft weiter und löst unendlich viele Fragen in mir aus.

Was wird wieder gut? Wo bin ich? Was ist passiert? Und warum kann ich mich kaum bewegen? Ein weiterer Versuch, nochmals meine Augen zu öffnen, klappt diesmal, wenn auch nur ein wenig. Über mir erkenne ich eine weiße Decke und nach einigen Sekunden drehe ich ein winziges Stück, weil es mir unheimlich schwerfällt, meinen Kopf zur Seite. Alles scheint irgendwie steril. Wo bin ich nur?

Ich versuche, zur anderen Seite zu schauen, und sehe Thea. Ganz starr liege ich da, mein Körper fühlt sich wie ein Stein an. Neben mir sitzt Thea und ihr Blick sieht besorgt aus. Langsam wird mir klar, wo ich anscheinend bin.

Warum bin ich im Krankenhaus? Was ist passiert? Hatte ich einen Unfall?

Ich suche in meinem Kopf nach Antworten, aber da ist alles durcheinander, was mir sofort Angst macht. Ich sehe Fetzen von Bildern, die ich nicht richtig zu deuten vermag. Kann mir Thea helfen?

Wo bin ich?“, frage ich mit einer Stimme, die nicht meine sein kann. Sie klingt kratzig und ganz leise.

Du bist im Krankenhaus. Du ...“, antwortet Thea, aber weiter kommt sie nicht.

Was ist geschehen?“, unterbreche ich sie im selben Atemzug, obwohl mir der Hals höllisch weh tut.

Du hattest einen Unfall“, sagt sie und greift nach meiner Hand.

Unfall? Ich war doch gar nicht mit dem Auto unterwegs. Langsam kommen die Erinnerungen zurück. Der Park! Ich bin nach Hause gelaufen und da war das Gewitter. Und ... ich war nicht allein! Hat er mir etwas angetan? Nein das glaube ich nicht. Er sah nett aus und sofort sehe ich die faszinierenden Augen wieder vor mir. Soll ich es Thea gegenüber erwähnen, oder sie nach ihm fragen? Erst einmal nicht, denn ich will endlich wissen, warum ich hier bin.

Das Gewitter war sehr schlimm und da hat es dich, sagen wir mal, erwischt“, kommt zögernd von Thea und versucht meine nicht gestellte Frage, zu beantworten.

Wie erwischt?“

Dich hat ein Blitz getroffen“, erwidert sie und ich sehe Tränen in ihren Augen. Sie macht sich echt Sorgen und mir würde es wohl ebenso ergehen, wenn sie hier liegen würde.

Ich gehe nicht darauf ein, sondern schließe meine Augen und höre in mich hinein. Da war so ein merkwürdiges Knistern und dann der wahnsinnige laute Knall. Ich habe einen Blitzschlag überlebt? Er auch? Abermals taucht der Kerl in meinen Erinnerungen auf.

Schatz du hast es überstanden. Und du wirst wieder gesund“, murmelt Thea, die inzwischen aufgestanden, meinen Kopf in ihren Händen hält und mir ein Küsschen auf die Stirn gibt.

Und er?“, flüstere ich, kaum hörbar für mich selbst.

Wer denn? Dich hat ein junges Pärchen gefunden, die in unmittelbarer Nähe waren. Mich hat man informiert, da wurdest du schon hier eingeliefert“, erklärt sie mir. „Warst du nicht allein?“, fragt sie aber dann doch noch und das ziemlich neugierig, denn sie zieht skeptisch eine Augenbraue hoch.

Ja ... Nein ... Weiß nicht ...“, stottere ich, weil mich etwas ablenkt. Ich spüre einen stechenden Schmerz in meiner rechten Handfläche, der mir fast den Atem nimmt. Ich hebe die Hand hoch und sehe, dass sie dick verbunden ist.

Was ist?“ Thea sieht mich aufgeregt an, denn den Schmerz kann sie mir im Gesicht ansehen.

Was ist mit meiner Hand? Sie tut wahnsinnig weh“, japse ich nach jedem einzelnen Wort. Ich muss sie mir bei dem Sturz verletzt haben. Daran vermag ich mich jedoch nicht zu erinnern.

Da hast du eine Verletzung. Das kann dir der Arzt besser erklären. Er hat nur erwähnt, dass das wohl die Austrittswunde des Blitzes ist. Soll ich ihn holen?“ Theas Schultern heben und senken sich, was mir zeigt, dass sie nichts Genaueres weiß, aber meine für mich gestellte Frage damit längst beantwortet hat.

Nein, es geht schon“, kommt von mir, denn der Schmerz ist genauso schnell wieder verschwunden, wie er aufgetreten ist. Ich schau meine verbundene Hand an und kann das alles irgendwie nicht verstehen.

In diesem Moment öffnet sich die Tür. Ein großgewachsener Mann im weißen Kittel kommt schnellen Schrittes an mein Bett.

Frau Wegener, wie geht es Ihnen?“, fragt er und greift nach meinem Handgelenk, um den Puls zu tasten.

Na ja, was soll ich sagen“, antworte ich leise und kann es wirklich nicht beschreiben, wie ich momentan fühle.

Haben Sie Schmerzen?“ Er sieht mich sehr aufmerksam an und dann schaut er auf den piepsenden Monitor neben mir, der mir erst jetzt auffällt.

Meine Hand, aber das geht schon wieder“, antworte ich und schaue nochmals unverständlich auf den Verband.

Das ist die Austrittswunde“, bestätigt er mir Theas Worte. „Sicherlich heilt das schnell ab. Was wir jedoch in Auge behalten müssen, ist ihr Herz.“

Mein Herz? Ich war immer gesund“, entgegne ich ängstlich.

Der Stromschlag hat es zum Stillstand gebracht und jetzt ist es erforderlich, alles dafür zu tun, dass es wieder in seinem gewohnten Takt schlägt“, lächelt er mich an, aber ich kann nur entsetzt zu Thea schauen.

Sie haben es ihr nicht gesagt?“, fragt er sie, nachdem er meinen Blick gedeutet hat.

Nein, ich wollte sie nicht überfordern“, erwidert Thea und schaut zu Boden.

Schon gut, jetzt wissen Sie es ja“, wendet er sich wieder an mich.

Ich verstehe nicht recht“, sage ich und schaue den Arzt fragend an.

Sie hatten einen Herzstillstand. Aber nur wenige Sekunden, denn Ihre Helfer waren vor Ort und haben umgehend geholfen“, versucht der Arzt mir vorsichtig zu erklären.

Sie haben mich wiederbelebt?“, frage ich direkt.

Ja, so ist es. Sie haben ein zweites Leben geschenkt bekommen und auf das müssen wir jetzt richtig gut aufpassen.“

Habe ich Spätfolgen zu erwarten?“

Das kann ich Ihnen noch nicht sagen, aber Ihre Werte zeigen mir, dass alles wieder in seinen vorhergesehenen Bahnen läuft“, meint er und tätschelt meine Hand. Am liebsten würde ich sie ihm entziehen, aber ich habe irgendwie keine Kraft dazu. Egal, er wird sie sowieso gleich wieder loslassen.

Sie sollten ein wenig schlafen, das ist momentan die beste Medizin“, lächelt er mich an und geht schon in Richtung Tür.

Darf ich noch etwas gegen die Schmerzen bekommen?“, halte ich ihn auf, der ist zwar nicht mehr schlimm, aber einschlafen werde ich damit nicht können.

Die Oberschwester wird Ihnen noch eine Infusion geben. Ich sage ihr Bescheid“, nickt er mir zu und schon schließt sich die Tür hinter ihm.

Ich werde dann auch gehen. Du brauchst deine Ruhe. Ich schaue morgen früh vor meiner Schicht noch mal bei dir rein“, sagt Thea, die sich bereits ihre Jacke überzieht.

Das wäre lieb von dir“, antworte ich. Gleichzeitig sehe ich schon wieder seine Augen vor mir und ein wahnsinniger Schmerz durchfährt meine Hand. Schnell schiebe ich die Gedanken an ihn weg und er lässt nach. Wieso reagiere ich so? Immer wenn ich an den Unfall oder diesem Kerl denke, tut mir die Hand weh. Ich kann mir keinen Reim darauf machen, es ist einfach nur komisch. Aber ich habe schon wieder das Verlangen mit Thea darüber zu reden, jedoch hält mich irgendetwas davon ab. Sie möchte erst einmal nach Hause und ich muss dringend schlafen. Mein Körper verlangt danach und mir fallen fast die Augen zu.

Bis Morgen meine Süße“, sagt Thea und reißt mich aus den aufkommenden Gedanken.

Bis Morgen“, lächele ich sie an und nicke ihr zu, denn ich bin mir sicher, dass mir hier nichts passiert. Ich habe es überlebt und bin nun in guten Händen, die mir helfen wieder auf die Beine zu kommen. Genauso wie die Schwester, die gerade hereinkommt. Sie hat eine Infusion, die sie über mir aufhängt.

Das wird Ihnen helfen etwas schlafen zu können“, zwinkert sie mir zu und schließt die Flüssigkeit an der Kanüle in meinem Arm an.

Thea ist inzwischen schon gegangen. Die Schwester richtet noch das Kopfkissen und dann bin ich allein. Die Ruhe ist fast erdrückend und ich höre mein Herz gleichmäßig in den Ohren schlagen. Meine Augen sind geschlossen und langsam schweife ich ab.

Schlafe und du wirst sehen, was passiert ist. Lass dich einfach fallen, dir wird nichts geschehen. Ich werde stets an deiner Seite sein.“ Es ist eine liebliche Stimme, die an mein Ohr dringt. Bin ich noch wach, oder träume ich schon? Wer war das? Habe ich mir das eingebildet? Aber die Stimme kommt mir nicht bekannt vor. Die Fragen bleiben in der Luft und der Zeit hängen, und ich versuche einzuschlafen.

 

 

 

 

 

 


"Erlös mich, wenn du kannst"

mein 4. Roman

 

 

 

ZWEI

 

 

 

Ich liege regungslos in meinem Bett und starre an die weiße Decke. Die Sonne ist schon aufgegangen, aber wir müssen nicht aufstehen. Heute ist Ausschlafen angesagt und so lasse ich Manuel noch schlummern. Sein leiser und gleichmäßiger Atem ist für mich beruhigend. Ich denke derweil daran, was heute alles nötig ist gemacht zu werden. Es sind noch einige Kartons auszupacken und mein Arbeitszimmer ist auch noch nicht fertig eingeräumt. Gestern Abend sind wir nicht mehr dazu gekommen. Es war sehr spät geworden und wir waren einfach nur zu müde. Also sind wir ins Bett gegangen und sofort eingeschlafen. Leider habe ich nichts geträumt und bin etwas enttäuscht darüber. Immerhin soll das in Erfüllung gehen, wenn man die erste Nacht in einem neuen Heim schläft. Aber was würde es ändern? Ich bin überglücklich, dieses Haus endlich mein Eigen nennen zu dürfen.

Hast du gut geschlafen?“, fragt Manuel, der seine Augen noch nicht richtig aufbekommt, dreht sich zu mir und legt seinen Arm auf meinen Bauch. Ein wunderschönes Gefühl von Vertrautheit macht sich in mir breit, die Wärme seiner Haut auf meiner zu spüren.

Ja, wie ein Murmeltier“, lächele ich ihn an.

Hast du was geträumt?“

Nein, leider nicht“, sage ich mit einem traurigen Unterton.

Vielleicht ist es auch besser so.“ Manuel zieht seinen Arm zurück, setzt sich etwas auf und sieht mich von der Seite an.

Es könnte doch sein, dass das hier alles aufhört“, meine ich leise, obwohl ich sofort merke, wie falsch die Worte klingen.

Du hast von diesem Haus ständig geträumt und nun ist es unser. Ich denke, es ist ein Puzzlestück in deinem Leben.“ Manuel sagt es sehr nachdenklich und ich kann ihn innerlich nur zustimmen

Was sollte das Haus zu meiner Veranlagung beitragen?“, frage ich immer noch so leise, dass man vermuten könnte, ich will nicht, dass es jemand hört, obwohl wir allein sind. Ich denke es zumindest.

Das kann ich dir nicht sagen. Ich bin fast davon überzeugt, dass deine Visionen und Träume zusammenhängen.“ Manuel wird nun auch merklich leiser. Aber warum, vermag keiner von uns beiden zu sagen.

Er beugt sich zu mir herunter, haucht einen Kuss auf meine Stirn und steht auf. Er dreht sich noch einmal zu mir um, bevor er das Zimmer verlässt und sein Blick sagt mir, dass er genau weiß, dass es nicht vorbei ist.

Ich lasse meinen Kopf in das Kissen fallen und mit geschlossenen Augen haben die Gedanken, wie auf Abruf, freien Lauf.

 

Ich habe eine Gabe, wenn man das so nennen kann, mit der ich schon seit meinem zehnten Lebensjahr versuche zu leben. Es sind Visionen von bevorstehenden Unfällen und bis heute ist niemand in der Lage mir zu sagen, warum gerade ich diese Bestimmung habe.

Sie kommen am Tag sowie in der Nacht, aber ich bin dabei immer munter. Also Träume sind es wirklich nicht und sie sind so real, als wäre ich stets mitten drin und würde sie direkt mit erleben. Es begann wie gesagt, als ich zehn Jahre alt war. Sie kamen in der Schule und der Freizeit und ich hatte nie irgendeine Vorwarnung. Sie überfielen mich und ich war immer für mehrere Sekunden abwesend und nicht ansprechbar. Es beginnt mit einem Dröhnen im Kopf, dann kommen unbeschreibliche Kopfschmerzen dazu, danach erscheinen Lichtblitze vor meinen Augen und zum Schluss sah oder sehe ich Unfälle und Verletzte, auch tote Menschen waren schon dabei. Am Anfang verstand ich überhaupt nicht damit umzugehen. Ich war jedes Mal vollkommen durcheinander. Erst mit der Zeit begann ich zu begreifen und realisierte, was da mit mir passiert.

Irgendwann kam ich einmal aus der Schule und da lag eine Zeitung bei uns zu Hause auf dem Tisch. Mir stockte der Atem, denn ich sah genau das, was ich am Tag vorher als Vision gesehen habe. Die Bilder schockierten mich fast noch mehr als das dazu Geschriebene. Ab diesem Moment stöberte ich jedes Mal nach einer Vision in Zeitungen, versuchte im Fernseher etwas zu erfahren und belauschte die Gespräche meiner Eltern. Wie sie ja mal so sind, halten sie solche schrecklichen Nachrichten möglichst von ihren Kindern fern.

Mit der Zeit machte es mir immer mehr Angst und ich sprach mit meiner Mutter darüber. Ich nahm allen Mut zusammen und habe mich ihr anvertraut, stieß aber nicht gerade auf Verständnis. Im Gegenteil, sie organisierte sofort eine Therapeutin. Diese unternahm alle möglichen Tests mit mir und am Ende hatte auch sie keine Erklärungen für die Vorfälle, wie sie die Visionen nannte. Es wurde sogar eine Computertomographie von meinem Kopf gemacht, um einen Tumor auszuschließen. Letztendlich wusste kein einziger von den Experten, was in meinem Kopf abgeht. Organisch war aber zum Glück alles in Ordnung, was mir jedoch nicht weiter half.

Von da an sprach ich mit niemandem mehr darüber, sondern verschloss mich und zog mich immer mehr in meine unnatürliche Welt zurück. Ich versuchte, für die Bilder einer Vision, nicht sofort nach Beweisen zu suchen, dass ich richtig lag, aber es gelang mir kaum bis nie. Meine Schuldgefühle stiegen fast ins Unermessliche, weil ich den Betroffenen nicht geholfen habe.

In der Schule war ich indessen schon längst ohne Freunde. Sie dachten, ich wäre verrückt. Ich habe kaum noch etwas mit meinen Schulkameradinnen unternommen, weil ich immer damit rechnen musste, dass ich durch eine Vision kurz wegtreten würde. Die anderen nannten es Anfälle und hatten am Ende mehr Angst davor als ich selbst. Sie verstanden es nicht, damit umzugehen und mir zu helfen, war ja ihrerseits kaum möglich.

Ich habe gelitten und an meinem Leben gezweifelt. Warum wurde mir so eine Last auferlegt? Ich wollte ein ganz normales Kind sein wie alle anderen, aber so wurde ich ungewollt zum Außenseiter. Zum Einzelgänger. Ein bemitleidenswertes Mädchen. Ein Kind was ständig neben sich stand und krank zu scheinen schien. Was natürlich nicht so war, aber das konnte keiner wissen und meine Eltern wollten auch nichts anderes glauben oder akzeptieren. Therapien, ja das war das Ziel. Nur ich allein wusste, dass sie nie helfen würden.

Meine Mutter drang darauf, dass ich ständig Medikamente einnehme, die die Therapeutin mir trotz keiner genauen Diagnose verschrieben hat. Aber als ich mitbekam, dass sie ebenfalls nicht halfen, denn den Unfällen war es egal, was ich schluckte, nahm ich sie nicht mehr. Ich ließ sie unbemerkt verschwinden und ab da ging es mir wesentlich besser. Ich war nicht ständig müde und der Appetit kehrte auch zurück. In der Schule sagte ich dann jedes Mal, es wäre Migräne. Somit konnte ich wenigstens etwas ruhiger leben und musste mich nicht immer wieder rechtfertigen. Ich kann auch nicht sagen, was sich die Lehrer dabei dachten, sie schickten mich einfach nach Hause, wahrscheinlich weil sie mit diesem Problem nichts zu tun haben wollten.

Mit 14 Jahren änderte sich die Lage. Ich hatte in der Nacht eine Vision von einem Busunglück, wobei viele Kinder in Gefahr waren. So ging ich an diesem Morgen nicht in die Schule, sondern zu meiner Therapeutin. Ich hatte zu viel Angst um die Kinder und wollte unbedingt, dass ihnen jemand hilft.

Sie nahm sich Zeit für mich, aber sie schenkte mir auch diesmal keinen Glauben. Sie gab mir etwas zur Beruhigung und forderte mich auf, sofort wieder nach Hause zu gehen. Dort kam ich gerade noch bis zu meinem Bett, fiel ohne mir die Sachen auszuziehen hinein und schlief im selben Moment tief ein. Es war ein richtig gutes Gefühl, alles einfach hinter mir zu lassen. Ich vergaß sogar die Kinder, die sich in großer Gefahr befanden.

Stunden später schüttelte mich meine Mutter unsanft wach. Total verschlafen wusste ich erst gar nicht, wo ich bin. Sie zerrte mich, egal ob ich über meine eigenen Füße stolpere, hinunter in das Wohnzimmer. Dort saß die Therapeutin und ich war augenblicklich putzmunter. Mit Tränen in den Augen erzählte sie mir, dass vor drei Stunden ein Bus, voll besetzt mit Kindern zwischen acht und zehn Jahren, einen Unfall hatte. Zwei Kinder sind dabei gestorben. Sie verlangte von mir, dass ich genau erzähle, was ich in der Vision gesehen habe. Mit etwas Unmut tat ich was sie von mir verlangte und es stellte sich heraus, dass das, was ich in den Bildern wahrgenommen habe, wirklich so passiert ist. Bei einzelnen Details zuckte sie zusammen, weil sie kaum zu ertragen waren. Ich habe es aber so gesehen. Und ich hoffte, dass sie es endlich einsahen und mich verstanden, was ich jedes Mal durchlebte.

Die Therapeutin sprach offen mit mir und sagte, dass sie mit dieser Situation nicht umgehen könnte. Sie unterbreitete mir einen Vorschlag, mit dem ich mich zunächst anfreunden musste. Sie kannte eine Frau, die über solche Dinge anders denkt und mir wahrscheinlich helfen konnte. Alles sträubte sich in mir und ich war zuerst dagegen, noch jemanden einzuweihen, aber es war der richtige Weg. Es war ab da mein Weg, den ich auch notfalls allein gehen wollte. Meine Mutter war wie von mir erwartet skeptisch, weil sie nicht hören wollte, was die Leute am Ende über uns tuscheln. Mir war das egal, ich hatte keine andere Wahl. Ich hatte entschieden, mit dieser Frau zu reden und ich ließ mich nicht davon abhalten. Hier ging es schließlich allein um mich, um mein Leben und nicht das meiner Eltern. Ich wollte nicht mehr für irre oder gestört gehalten werden.

Amara war eine Frau Mitte vierzig. Rotes, leuchtendes Haar fiel ihr leicht über die Schultern und ein paar Sommersprossen zierten ihre feinen Gesichtszüge. Schon bei der ersten Begegnung mit ihr, spürte ich, wie sich alle Anspannungen in mir lösten und sich ein sanftes Band zwischen uns spannte, was mir die Sicherheit gab, ihr vollkommen vertrauen zu können. So eine Erfahrung hatte ich noch nie gemacht, nicht einmal bei meinen Eltern.

Als ich das erste Mal bei ihr war, begriff ich sofort, dass sie anders war, ja ganz anders, als all die Menschen, Ärzte und Therapeuten, die ich kennengelernt habe und die mit meiner Situation betraut waren. Ihr Haus sah von außen wie jedes normale aus, aber sowie ich über die Schwelle trat, kam ich in eine komplett andere Welt.

Es war von Wärme und seichtem Kerzenlicht erfüllt und in ihrem Arbeitszimmer gab es so viele Dinge, die auf eine oder gar mehrere Gaben hinwiesen. Ich sah mich um und entdeckte die verschiedensten Sachen. Tarotkarten, verschiedene Pendel, eine Glaskugel, Astrologiekarten und Bilder aller Mondphasen. Viele Leute haben mir gegenüber mit vorgehaltener Hand erwähnt, dass sie eine Hexe wäre, aber ich wusste es sofort besser. Das hat nichts mit Hexerei zu tun, sondern eher mit einem freien Geist, der für alles offen ist. Dass sie sehr spirituell ist, kann ich nicht leugnen, aber ich habe sie als Beraterin in meinem durcheinander gekommenen Leben gelassen.

Sie hörte mir zu und verstand alle meine Probleme. Wir erarbeiteten zusammen einen Plan, wie ich mit den Visionen, was sie mir als meine ganz persönliche Gabe erklärte, umgehen muss. Dass ich mit dieser Gabe selbst spirituell bin, brachte mich schließlich zum Lächeln.

So sollte ich sie immer informieren, wenn ich eine Vision hatte, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Gemeinsam versuchten wir dann, die Unfälle zu verhindern, zumindest deren Ablauf zu beeinflussen war unser Ziel. Letztendlich lernte ich so viel, dass mein Leben dadurch immer besser wurde. Der Nachteil war jedoch, je mehr Menschen wir geholfen haben, umso intensiver schlugen die Visionen ein und die Anzahl der Leute, die davon wussten, stieg unaufhörlich an.

Zum Beispiel habe ich in einem Kindergarten die Kleinen beschützt, die sonst von einem Klettergerüst gefallen wären, wie auch einen Familienvater, der übermüdet ins Auto steigen wollte.

Am Anfang war es schwierig, die Feuerwehr und Polizei einzuweihen und zum Einsatz zu bewegen. Aber die Feuerwehrleute wunderten sich mit der Zeit immer weniger darüber, dass ich anrief und sie irgendwohin schickte, obwohl sie gar keinen Alarm bekommen hatten. Ich war stolz auf mich selbst und den Menschen zu helfen, erfüllte endlich den Sinn meines Lebens. Ich wurde immer bekannter und viele schauten mich nicht mehr skeptisch und als Sonderling an, sondern waren sehr oft nur noch dankbar. Dass ich mit Amara zusammenarbeitete, störte plötzlich niemanden mehr. Auch ihr Ansehen ist seitdem gestiegen, was sie natürlich ebenso genoss.

Meine Eltern bewunderten mich ebenfalls, konnten mir aber nicht sagen, warum ich diese Gabe habe und woher sie gekommen ist. In ihrer Familie ist so etwas jedenfalls noch nie passiert.

Ich forschte auch nicht weiter nach und war froh darüber, dass meine Eltern ab jetzt immer hinter mir standen. Sie werden wahrscheinlich nie richtig begreifen, was ich da tu, aber ihre Liebe zu mir ist ungebrochen und der Stolz auf das, was ich bewirken konnte, überwog.

Also lebte ich mit diesen Visionen, beendete die Schule und aus der Liebe zu Gold und Schmuck wurde mein Beruf. So wurde ich Schmuckdesignerin. Vor fünf Jahren lernte ich dann Manuel kennen und lieben. Kurz nach unserer Hochzeit und der Zeit, in der wir angefangen haben die Zukunft zu planen, kam dieser Traum in mein Leben. Die Visionen wurden immer weniger und die letzten Jahre hatte ich gar keine mehr, der Traum von diesem Haus jedoch wurde umso intensiver. Er war so lebendig und ich streifte in ihm durch den Garten und dem Gebäude, als würde ich es schon ewig kennen und darin wohnen. Ich machte es praktisch zu meinen, ohne zu wissen, ob es das Haus überhaupt gibt.

 

Nun habe ich die erste Nacht hier verbracht und hoffe, dass die Visionen nicht wieder zunehmen. Sollte es so kommen, habe ich eine noch schwerere Aufgabe, nämlich den Leuten hier beizubringen, was mit mir los ist. Ich bin die fremde und neu Zugezogene und die Aufklärung über meine Gabe stelle ich mir als sehr schwierig vor. Ich kann aber nur abwarten, was auf mich zukommt, denn verhindern werde ich es nicht können.

Nur ein Gedanke kommt mir noch. Was würde Amara dazu sagen, dass wir jetzt hier wohnen? Ich habe über drei Jahre nur wenig mit ihr gesprochen und wenn, dann auch nur telefonisch. Also sollte ich sie anrufen, denn sie ist eine sehr gute Freundin für mich geworden. Warum der Kontakt fast abgebrochen ist, weiß ich nicht so recht. Anscheinend lag es daran, dass ich mein Leben mit Manuel gefunden habe sowie keine Visionen mehr hatte. Aber wie ich erfahren sollte, hat sie stets über mich Bescheid gewusst und meine Wege unsichtbar verfolgt. Ich brauchte mir also deswegen keine Vorwürfe zu machen.

 

Jetzt schiebe ich all diese Gedanken erst einmal beiseite, schwenke meine Beine endlich aus dem Bett und stehe auf. Nur mit dem Morgenmantel bekleidet gehe ich in die Küche hinunter und bleibe erstaunt in der Tür stehen. Der Tisch ist schon gedeckt und es liegt der Duft von frischem Kaffee in der Luft. Aber wo ist Manuel? Ich schaue ins Wohnzimmer und da kommt er gerade zur Terrassentür herein. Mit einem bunten Strauß von Wiesenblumen schwebt er an mir vorbei. Lächelnd sehe ich ihm nach und weiß, dass nur diese Blumen unseren Garten hinterm Haus schmücken, etwas anderes hat momentan noch keine Chance zu blühen. Aber so schlecht sind sie gar nicht, ganz im Gegenteil, so ein wilder Garten hat auch was für sich. Kurz darauf stellt er sie, in einer passenden Vase, auf den Frühstückstisch und es ist wirklich ein schöner Anblick. Ich setze mich aber noch nicht, sondern suche nach meinem Handy. Ich finde es auf dem Couchtisch und wähle sofort die Nummer von Amara.

Hallo, Stella, alles in Ordnung?“, fragt sie so schnell, dass einen schwindelig werden kann.

Hallo, Amara. Es ist alles Okay. Ich wollte dir nur sagen, dass wir jetzt in unserem neuen Haus wohnen“, sage ich und lächele Manuel verlegen an, der neben mir steht und aufmunternd nickt.

Das weiß ich doch schon längst, meine Süße. Ich wünsche euch alles Gute im neuen Heim“, höre ich Amara am anderen Ende kichern.

Ja, wie soll es anders sein“, kommt nur kurz von mir. Den Anruf hätte ich mir echt sparen können.

Hast du etwas geträumt in der ersten Nacht?“, fragt Amara überraschend und mein Lächeln verschwindet für einen Moment.

Nein“, piepse ich, denn ich weiß, dass das in ihren Augen garantiert etwas zu sagen hat.

Gut so. Es beginnt ein vollkommen neuer Abschnitt für dich oder besser gesagt für euch. Dein Unterbewusstsein wird selbst noch nicht wissen, wie es weiter geht“, erklärt sie mir einfühlsam.

Und das ist gut?“, frage ich zögerlich.

Frage, ob ich mit dem Puzzlestück recht habe“, flüstert Manuel mir ins Ohr.

Ja, er hat recht“, antwortet sie, bevor ich sie stellen kann. „Das Puzzle ist fast fertig. Es gibt nur noch wenige Teile und die wirst du bald finden. Oder sie finden dich“, lacht Amara.

Was passiert, wenn es fertig ist?“, will ich wissen und Unbehagen macht sich in meiner Magengegend breit.

Dann weißt du, warum du die Visionen hattest und wo sie eigentlich hergekommen sind. Alles hat einen Grund, so auch alles, was du schon durchlebt hast. Lass es auf dich zukommen, du wirst es sowieso nicht ändern können. Du kannst jetzt eigentlich nur noch Antworten bekommen und die wünsche ich dir von ganzem Herzen“, sagt Amara und löst in mir eher ein Durcheinander aus, als das sie mich beruhigt und noch weniger meinen nervösen Magen.

Ich werde die Augen offen halten“, murmele ich in den Hörer.

Ach Mädchen, mach dich nicht verrückt. Du wirst nichts finden, es findet dich. Lebe einfach und genieße den schönen Sommer in eurem neuen Haus“, erwidert Amara und ich sehe sie vor mir, wie sie den Kopf darüber schüttelt, dass ich mir schon wieder Sorgen mache. Also sollte ich es auch sein lassen und einfach leben, wie sie es sagt.

Vielen Dank, dass du Zeit für mich hattest. Ich werde deinen Rat befolgen“, lache ich nun auch, denn es hat wirklich keinen Sinn, sich den Kopf zu zermürben.

Immer gerne. Du hast meine Nummer und ich bin stets für dich da. Ich wünsche euch einen schönen Sonntag. Tschau meine Lieben.“

Die letzten Worte von Amara treffen mich wie ein Schlag. Es ist Sonntag früh morgens und sie hat ohne zu zögern abgenommen. Man sollte an diesem Tag niemanden stören. Aber bei Amara ist es anders und das hat sie mir wieder einmal bewiesen. Menschen, die sie tief in ihr Herz geschlossen hat, für die ist sie immer da, egal wann.

Ich lege das Handy weg, atme tief durch und spüre, dass sich mein Magen wieder beruhigt und ich sogar Hunger habe. So folge ich Manuel in die Küche und nehme an den so hübsch geschmückten Tisch platz. Wie schön wäre es, jetzt auf der Terrasse in der Sonne zu sitzen, aber auch das wird eines Tages möglich sein. Jetzt genießen wir erst einmal in aller Ruhe das Frühstück und dann werde ich mich um mein Arbeitszimmer kümmern, ob es nun Sonntag ist oder nicht.

 

 

 

 

 


"Mein neues altes Leben"

mein 3. Roman

 

 

1

 

 Im Hintergrund höre ich Mona wieder einmal durch mein Haus wirbeln. Sie ist dabei, in meinem Haus Ordnung zu
schaffen, was eigentlich nicht ihre Aufgabe wäre. Aber seitdem Rico nicht mehr da ist, bekomme ich das nicht auf
die Reihe. Normalerweise ist es gegen meine Natur, Sachen liegen zu lassen und dringende Dinge nicht zu erledigen.
Trotzdem greife ich nicht ein, erstens weil ich noch nicht dazu in der Lage bin und zweitens stört es mich nicht. Es ist
mir egal, wie es aussieht, weil ich keinen Sinn mehr darin sehe hier überhaupt noch etwas zu tun.
Auch heute mache ich mir einen Tee und setze mich in meinen Schaukelstuhl an die Terrassentür. Ich starre in den
voll Wolken hängenden Himmel. Er weint bitterlich, wie mein Herz.
 Meine tiefschwarzen Haare hängen wie ein Trauerflor über meine Schultern und verdecken zum Teil mein weinendes
Gesicht. Der schöne Glanz ist verschwunden, wie auch das Leuchten meiner braunen Augen, die in Tränen ertrinken.
Jeden Morgen beim Blick in den Spiegel erkenne ich mich ein Stück weniger.
 Roose, Ricos Katze, die er über alles geliebt hat, natürlich gleich nach mir, schmiegt sich sanft in meinen Schoß. Sie
weicht mir nicht mehr von der Seite, denn sie scheint genauso zu trauern und leiden wie ich.
 Die schützende Hand von Mona, die sich leise zu uns gesellt, greift nach meiner, was ich aber kaum spüre. Die
Kraft und Sicherheit, die sie mir damit geben will, nehme ich unbewusst und ohne jeden Widerstand entgegen. Ich bin
einfach zu schwach und reagiere nun schon seit einigen Wochen nur noch auf das, was andere von mir wollen, mit
fast vollkommener Abwesenheit.
 Das geht nun schon so, seit mein Mann Rico den Unfall hatte und das Szenario immer und immer wieder vor meinen
inneren Augen vorüberzieht. Es ist der schlimmste Tag meines Lebens gewesen und bei jedem Gedanken daran, auch wenn er nur verschwindend kurz ist, zerreißt mir das Herz in tausende Splitter.


 Es war ein wunderschöner sonniger Sonntag, der erste in diesem Jahr und so war es wie in jedem Frühling. Rico
putzte sein Motorrad und machte seine erste Tour. Ich war nicht begeistert, weil ich mit ihm in unserem Garten
Ordnung machen wollte. Der Winter war lang gewesen und die ersten Sonnenstrahlen lockten einen hinaus, um etwas zu tun. Eigentlich wollte ich die Abdeckung der Rosen entfernen und vielleicht auch noch den Gartenteich säubern,
denn unsere kleinen Goldfische sind nach dem Winter wieder mobil, aber sie schwimmen in ziemlich trüben
Wasser. Aber nein! Also saß ich letzten Endes allein auf der Terrasse, nachdem ich die Gartenstühle aus unserem Keller
geschleppt habe, mit einer Tasse Kaffee und einem Buch und wartete darauf, dass Rico wieder nach Hause kommt.
Jedoch verging die Zeit und es wurde schon wieder sehr frisch, sodass ich mich in der Küche zu schaffen machte. Ich
suchte mir Arbeit im Haus, um mich abzulenken, denn im Unterbewusstsein wurde mir schon klar, dass irgendetwas
nicht stimmte. Rico war nie so lange unterwegs und außerdem wurde es auch schon dunkel. Mit einem
mulmigen Gefühl, rief ich Mona, meine beste Freundin an und sie war kurze Zeit später bei mir. Gemeinsam warteten
wir und es dauerte nicht lange, da klingelte es an der Tür. Ich war schon nicht mehr in der Lage zu öffnen. Ich wusste,
dass etwas passiert sein musste, denn ich habe das Polizeiauto kommen sehen. Mona übernahm das und ließ
die zwei Männer herein.
 Was dann geschah, kann ich nur noch vage wiedergeben, denn bei dem Wort Unfall war ich praktisch nicht mehr
anwesend. Ich fiel in ein tiefes schwarzes Loch und hörte die Worte nur noch aus der Ferne, wie durch einen
undurchdringlichen Schleier. Mona saß neben mir auf der Couch, wo ich einfach niedergegangen bin und unterhielt
sich mit den Polizisten. Komplett zusammengesackt bin ich dann, als ich hörte, wie der eine Polizist sagte, dass mein
Mann leider am Unfallort noch verstorben sei.

 Warum Rico? Warum verliere gerade ich meinen Mann? Wir sind doch erst Mitte dreißig und haben unser ganzes Leben noch vor uns. Das kann alles nicht wahr sein. Ich fühlte mich absolut leer. Konnte keinen Gedanken fassen oder die Polizisten nach irgendetwas fragen. Es ging einfach nichts mehr.
 Die Männer verließen unser Haus und Mona meinte, dass wir das am nächsten Morgen erledigen würden und sie sich
auch um mich kümmern würde. Ich wusste nicht, dass das, was wir da machen sollten, das Unbeschreiblichste sein
sollte, was man von einem Menschen verlangen kann. Meinen Mann identifizieren. Warum ich? Können das nicht
seine Eltern tun? Mona erklärte mir, dass ich, seine Ehefrau, die erste Angehörige bin und es deswegen machen müsste.
Aber er hatte doch seine Papiere dabei?
 Alle möglichen Fragen schossen mir gleichzeitig durch den Kopf. Die Polizisten haben nicht gesagt, wo es passiert ist
und ich wollte es auch nicht wissen. Nur eines war mir klar: Er wollte in die Sächsische Schweiz und da gibt es viele
Straßen mit gefährlichen Kurven.
 Ich weiß nicht wie lange es gedauert hat, aber ich stand wie in Trance auf und suchte im Telefonbuch nach der Nummer
von Ronny. Er ist ein guter Freund von Rico und ist unser Anwalt. Wie ein Roboter wählte ich seine Nummer und als
er abnahm, erklärte ich ihm kühl, was passiert ist. Ich bat ihn, sich um alles zu kümmern, was mit dem Unfall zu tun
hatte. Ich wusste damals schon, dass ich nie die Kraft haben würde, mich mit Details des Unfalls auseinanderzusetzen.
Nach dem ersten Schreck versprach Ronny mir, mit von Tränen erstickter Stimme, dass er alles in die Hand nehmen
würde. Ausdruckslos setzte ich mich, mit dem Telefon in der Hand, wieder auf die Couch und Monas Arme umschlangen
mich. Zusammen weinten wir, ohne den Versuch, den Tränen Einhalt zu gebieten. Mir liefen die Tränen wie bei
einem kleinen Kind über das Gesicht und durchnässten Monas hübsche Bluse, was ich jedoch nicht bemerkte. Eine
Stunde später war unser Wohnzimmer gefüllt von trauernden und schluchzenden Menschen. Wie sie alle hier
hergekommen sind, weiß ich nicht mehr, ich erinnere mich nur noch daran, dass mir ein Arzt eine Spritze gegeben hat.
Ich versank in meinem Schmerz und meine Augen schlossen sich.
 Am nächsten Morgen lag ich in meinem Bett, ohne zu wissen wie ich dahin gekommen bin, und meine Hand griff
auf die leere Bettseite neben mir. Mein Herz krampfte sich zusammen und meine Augen füllten sich wieder mit Tränen,
denn augenblicklich wurde mir wieder klar, was passiert ist. Ich war allein und nicht fähig aufzustehen, bis ich
Geräusche wahrnahm, die aus der Küche kommen mussten.
 Mit den wenigen Kräften die ich besaß, mühte ich mich aus dem Bett, schlüpfte in meinen Morgenmantel und ging leise
nach unten. Ich wusste nicht, wer sich in meiner Küche zu schaffen machte und mir viel ein Stein von Herzen, als ich
Mona sah und nicht meine Mutter. Ihr erdrückendes Mitleid hätte ich in diesem Moment nicht ertragen können.
Mona gab mir kurz ein Küsschen, fragte, ob ich etwas schlafen konnte, und stellte mir einen starken Kaffee auf den
Tisch. Ohne weitere Worte setzte ich mich und nahm das heiße Getränk dankend an.
 „Möchtest du, dass ich mit zum Bestattungsunternehmen komme?“, fragte Mona, und mir wurde augenblicklich übel,
bei dem Gedanken, was ich an diesem Tag tun musste.
 „Fühlst du dich dazu in der Lage?“, stellte ich die Gegenfrage, die eigentlich jemand mir stellen sollte, ohne
weiter zu überlegen, was sie überhaupt gesagt hat.
 Nach einer Weile fasste ich einen klaren Gedanken und wendete mich an Mona. „Wieso zum Bestatter? Sollten wir
nicht zur Polizei kommen?“
 „Nein. Seine Eltern haben noch gestern Abend die schwere Aufgabe übernommen und jetzt ist Rico schon beim
Bestatter. Heute Nachmittag können wir im engsten Kreis von ihm Abschied nehmen“, sagte Mona leise und ich hörte,
wie auch sie mit den Tränen kämpfen musste, obwohl sie ihr Gesicht vor mir verbarg.
 Sabine und Steffen, Ricos Eltern hatten sich um die Identifizierung gekümmert? Wie schwer musste das für sie
gewesen sein? Gleichzeitig war ich aber froh, dass ich es nicht machen musste.
 „Und wann soll das heute Nachmittag sein?“, fragte ich kurz, verdrängte die Übelkeit die in mir aufstieg und meinen
Magen zumVerkrampfen brachte.
 „16 Uhr und morgen Vormittagwill der Bestatter mit euch allen wegen der Beerdigung reden. Aber auch da komme ich
gern mit, wenn du mich brauchst“, flüsterte Mona und in diesem Moment war ich unbeschreiblich dankbar, so eine
treue Freundin an meiner Seite zu haben.

 Bis heute ist sie ohne wenn und aber an meiner Seite und kümmert sich um fast alles, was mein Leben momentan bestimmt. Sie hat sogar in Windeseile eine Studentin gefunden, die in unserem Geschäft als Aushilfe eingesprungen ist. Wir haben seit fünf Jahren zusammen einen kleinen Laden in Dresden, in dem wir Babymode verkaufen. Um ihn nicht die ganze Zeit komplett schließen zu müssen, denn den Verlust der Kundschaft würden wir nicht gerade verkraften, suchte sie nach dieser Aushilfe. Sie öffnet zwar nur nachmittags, aber immer noch besser als gar nicht. So ist Mona jeden Tag bei mir und umsorgt mich wie eine Mutter und ich kann ihr nicht genug dafür danken.

 

 

                                                                                                 2

 Ich stand vor meinen Schrank und suchte nach etwas Passendem für den Abschied von Rico. Aber was könnte da
schon passend sein? Ist es nicht egal, was ich anziehe? Ich wollte nicht dahin und ich konnte mir auch nicht vorstellen,
dort Rico das letzte Mal zu sehen. Plötzlich stand Mona hinter mir und zeigte auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Sie wollte mir damit zeigen, dass es Zeit wird zu gehen. Rasch zog ich ein schwarzes T-Shirt aus dem Schrank und meine schwarze Hose und schlüpfte in die Sachen. Mona drückte mir noch meine Tasche in die Hand und schob mich dann vor das Haus. Wie ein kleines Kind folgte ich ihr zum Auto, stieg ein und ohne zu reden, fuhr sie los. Ich hätte nicht einmal gewusst, wo das Bestattungsunternehmen ist. Ich hatte ja auch noch nie etwas damit zu tun. Bis heute!
 Mona lenkte auf einen Parkplatz, und ich sah schon von Weitem mehrere schwarz gekleidete Menschen. Mein Körper versteifte sich und ich war mir nicht mehr sicher, überhaupt aus dem Auto aussteigen zu können. Kaum das wir hielten, kam Chris, einer unserer besten Freunde auf uns zu und hielt mir die Autotür auf. Widerwillig stieg ich aus und fiel ihm gleichzeitig in die Arme. Seine Wärme ließ meinen Körper fast zusammenbrechen und mein Gesicht verwandelte sich in ein Tränenmeer. Gestützt von Mona und Chris betraten wir den kleinen Raum, wo in der Mitte Rico aufgebahrt lag. Abrupt blieb ich stehen und beobachtete, wie seine Eltern und auch meine, sich ihm näherten und ein tiefes Schluchzen den Raum erfüllte. Keiner konnte mehr seinen Tränen Einhalt gebieten und es wollte auch niemand.
 Alle ließen dem Schmerz des Verlustes freien Lauf.
 Langsam näherte auch ich mich nun meinem Mann. Er lag so still und friedlich da, als würde er nur schlafen. Keinerlei
Verletzungenwaren zu sehen und man fragte sich, warum er überhaupt dort lag.
 Mit Mona stützend im Rücken stand ich direkt neben ihm und griff zaghaft nach seiner Hand. Das Gefühl der kalten
Haut ließ mich erschaudern. Mein Herz setzte kurz aus, mir wurde kurz schwindelig und schwarz vor den Augen, aber
Mona ließ es nicht zu, dass ich ohnmächtig wurde. Ich nahm alle meine Kräfte zusammen, obwohl ich meine Beine kaum
noch spürte, fast nicht mehr gerade stehen konnte und beugte mich mit dem bedrückenden Gedanken, dass ich nie
wieder Zärtlichkeiten von ihm erhalten und auch nie wieder seine Lippen auf meinen spüren werde, über ihn und hauchte ihm einen letzten Kuss auf die Stirn. Sie war ebenfalls kalt, aber dass nahm ich in diesem Moment nicht wahr. Als ich mich von Rico löste, stürzte ich in ein noch tieferes Loch.
 Ich kam erst zu Hause wieder zu mir, immer noch in den tröstenden Armen von Mona und Chris. Den Kopf und meine Gedanken eingehüllt und vernebeltvon Tabletten und mit einem heißen Tee, ließ ich mich auf die Couch fallen, wo ich sofort eingeschlafen bin.


 Am nächsten Morgen, nachdem mir Mona in neue Sachen half, weil die Tabletten immer noch meinen Kopf
beherrschten, holten mich Ricos Eltern ab. Unser Weg führte wieder zum Bestatter, um über die Beerdigung zu sprechen. Ich nickte immer nur abwesend und war eigentlich mit allem was Sabine und Steffen vereinbarten einverstanden. Als es zur Erstellung der Todesannonce kam, war ich plötzlich putzmunter. Spontan fiel mir ein Text ein, der zu Rico und unserem Leben passte. Er sprudelte nur so aus mir heraus.


Was man tief in seinem Herzen besitzt,
kann man nicht durch den Tod verlieren.
Ich spüre, dass du noch bei mir bist,
wir müssen uns nur wiederfinden.


 Simone sah mich etwas verwirrt von der Seite an, aber sie stimmte letztendlich zu. Was ich da gesagt habe, hatte für mich keinen Sinn ergeben, aber es sollte sich irgendwann, nicht nur so als dahingesagt bewahrheiten.
 Eine Woche später war der Tag gekommen, wo wir alle den schweren Gang vor uns hatten, Rico zur letzten Ruhe zu
betten. Mona war wie schon die ganze Zeit bei mir und versuchte mich dazu zu bringen, etwas zum Frühstück zu essen. Ihre Mühe um mich war beeindruckend, aber ich konnte ihr den Gefallen nicht tun. Keinen einzigen Bissen bekam ich
hinunter, nur eine Tasse Kaffee. Extra stark, das versteht sich.
 Für 13 Uhr war die Beerdigungszeremonie angesetzt und so machten wir uns rechtzeitig auf den Weg, um die Ersten in
der Kirche zu sein. Der Weg führte uns zwischen den Gräbern hindurch zum Eingang der Kirche. Dort warteten
schon meine Eltern sowie auch Ricos. Nachdem wir uns alle in die Arme genommen haben, betraten wir die Kirche. Bei
den ersten Schritten auf dem Steinboden in Richtung Altar, erklangen die seichten Töne der Orgel. Mein Körper begann
zu zittern und das Gehen fiel mir immer schwerer. Ich ging Hand in Hand mit Mona und Chris durch die Bankreihen auf
Ricos Sarg zu, der vor dem Altar stand. Eingehüllt in einem weißen, roten und gelben Blumenmeer und in der Mitte ein
Bild von ihm. Ausgerechnet auf seinem Motorrad. Wer hatte gerade dieses Bild herausgesucht? Bei dem Anblick
konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten und war froh, als ich mich auf eine Bank setzen konnte. Mona gab
mir noch ein beruhigendes Küsschen auf die Wange und nahm hinter mir Platz. Warum konnte sie nicht neben mir
bleiben? Ich brauchte sie doch gerade jetzt am meisten. Aber als meine Mutter sich neben mich setzte und nach meiner
Hand griff, wusste ich, dass es doch nicht nur Mona gab die mir beistand, sondern noch viele andere. Aus roten
geschwollenen Augen sah ich sie an, drückte dankend ihre Hand und ließ sie nicht mehr los.
 Wie viele mit uns trauerten, wurde mir mehr und mehr bewusst, denn die Kirche füllte sich zunehmend.
Ein Blick nach hinten, kurz bevor der Pfarrer begann, verschlug mir vollends die Sprache. Die Kirche war bis auf
den letzten Platz gefüllt. Überwiegend junge Leute und es waren Unmengen von Gesichtern, darunter viele, die ich
noch nie gesehen hatte. Aber was hatte ich denn erwartet? Nicht´s, denn ich bin in meinem Schmerz gefangen. Sie alle
waren nur wegen Rico hier. Alle wollten ihn auf dem letzten Weg begleiten. Ich sah, wie sie sich weinend in die Arme
fielen. Das war so überwältigend für mich, dass meine Tränen erneut über meine Wangen liefen. Mein Schluchzen
erstickte ich in einem Taschentuch, als der Pfarrer zu sprechen begann. Er sprach laut aber bedächtig und brachte
uns Ricos Leben noch einmal nahe. Als ich meinen Namen aus seinem Mund hörte, denn Rico hatte angeblich so ein
riesiges Glück mich gefunden zu haben und mit mir ein Stück seines Lebensweges gehen durfte, konnte ich kaum
noch atmen. Meine Kehle war von einem Kloß verschlossen, mein Mund staubtrocken und mein Herz wollte nicht mehr
gleichmäßig schlagen. Erst als meine Mutter mich zu sich heranzog und mich auf die Stirn küsste, ließ das
schreckliche Gefühl, vollkommen machtlos zu sein, etwas nach.
 Nach einer nicht endenden Stunde und mehreren Gebeten für Rico, trugen sechs Männer den Sarg nach draußen.
Stumm und weinend in den Armen meines Vaters, folgte ich dem Sarg meines geliebten Mannes. Erst als alle die Kirche
verlassen und sich um die Grabstelle versammelt hatten, ließen die Männer den Sarg hinab in seine letzte Ruhestätte.
Mit kaum spürbaren Beine und zitternden Händen stand ich als Erste davor und sollte mich nun endgültig verabschieden. Mein Kopf war voller Fragen. Warum? Wir hatten gerade mal fünfzehn Jahre, um zusammenzuleben. Ist das wirklich das Ende unserer Liebe? Bin ich jetzt tatsächlich allein? Ich wollte ihn nicht gehen lassen. Nicht jetzt und nicht so!

 Mona trat neben mich und holte mich aus der Umlaufbahn des Schmerzes und des Verlustes zurück, in der ich mich ganz allein befand. Sie nickte mir zu, ich küsste die weiße Rose in meiner Hand und warf sie auf den Sarg in die Tiefe.
Mona zog mich zur Seite und wir gaben den Weg frei für all diese Menschen, die sich von Rico auch verabschieden
wollten.
 Einige kamen noch einmal zu mir, drückten mich und sprachen mir ihr Beileid aus. Ich sah das Mitgefühl in ihren
Augen und es kam bei mir an. Ich wusste, ich bin keinesfalls mit meinem Schmerz allein. Es nahm mir zwar nicht die
Angst vor dem, was auf mich zukam, aber es stärkte mich, es besser durchzustehen. Ich versuchte, die Kraft und Liebe
der anderen in mich aufzunehmen. Die meisten von ihnen kannte ich nicht und die Namen der Leute, die mir Chris
sagte, hatte ich noch nie gehört.
 Nach einer Weile hatte ich keine Kraft mehr und ich wollte nur noch, dass das alles schnell vorbei gehen würde.
Aber so war es nicht, denn die engsten Verwandten und Freunde waren noch zu einem sogenannten Leichenschmaus
eingeladen. Was das sollte, wusste ich nicht, aber es ist eben Tradition. Es waren nicht mehr viele, aber alle redeten
durcheinander und die Brocken, die ich aufschnappte, waren nicht gerade von Trauer besetzt. Eine aufgelockerte
Unterhaltung ist schon nicht schlecht, denn sie kann ablenken, aber Ricos gesamtes Leben noch einmal zu hören,
war zu viel für mich. Also verließ ich unter unverständlichen bis hin zu mitleidigen Blicken zusammen mit Mona die
Gaststätte. Ich flüchtete mich regelrecht nach Hause, in meine schützende Umgebung.
 Am ersten Tag nach der Beerdigung war ich immer noch benommen. Dann kamen aber Tage, an die Mona nur noch
mit Grauen denkt, denn sie war es, die alles wieder in Ordnung brachte und zusammenhielt. Ich habe Geschirr aus den Schränken gerissen und zertrümmert und zugesehen wie es in tausende Splitter zersprang. Ich ging in den Garten und schrie mir die Seele aus dem Leib, ohne auf die Nachbarn zu achten, die mich kopfschüttelnd beobachteten und mich wahrscheinlich auch nur bemitleideten.
 Ich fühlte mich ständig ohnmächtig, zornig, frustriert und unermesslich traurig. Die Traurigkeit füllte meine Lungen
mit Wasser und ich hatte das Gefühl zu ertrinken. Ich fühlte mich von Rico im Stich gelassen, dann wiederum wusste
ich, dass ich falsch lag, denn er trug keine Schuld, ebenso wenig wie ich selbst.

 Er war tot und ich fühlte mich, als hätte mir ein wildes Tier das Herz herausgerissen. Ein Teil von mir fehlte und ich
weiß bis heute, ich liebe Rico und ich werde niemals etwas anderes fühlen. Aber auch diese Phase verging und nun sitze
ich immer wieder apathisch auf der Couch und lasse mich von Mona umsorgen. Das geht jetzt einen Monat so. Ich verkrieche mich in meinem Haus und lasse nur Mona an mich heran. Jeden Tag schleppe ich mich über die Zeit und der Mut, das Haus zu verlassen und wieder in die Normalität zurückzukehren, verlässt mich mehr und mehr.

 


 

"Geliebtes fremdes Wesen"

mein 2. Roman

 

1

 

  Ich rutsche auf der Bank hin und her und versuche mich zu konzentrieren, indem ich dem Stab, den Professor Wagner wie immer in einer unbeschreiblichen Monotonie schwingt, zu folgen versuche.

  Meine Augen gehen den Bewegungen hinterher, aber es fällt mir immer schwerer, sie offen zu halten. Der gleichmäßige trockene Ton, mit dem der Professor die Paragraphen erklärt, ist noch zusätzlich einschläfernd. Er könnte sie doch an ein paar Beispielen darstellen, aber nein, es wäre dann wohl verständlicher für uns und das Lernen würde uns leichter fallen und vielleicht sogar noch Spaß machen. Uns Studenten soll es eben nicht zu gut gehen. Kurz bevor sich meine Augen schließen und meine langen blonden Haare nach vorn über mein Gesicht fallen, stupst mich Pia von der Seite an.

  „Noch zehn Minuten, dann hast du es geschafft“, sagt sie und lächelt mich verschmitzt an.

  Ich raffe meine Haare wieder nach hinten und schaue kurz auf die Uhr, dann heftet mein Blick wieder an dem Stab, und ich komme mir augenblicklich vor wie bei einen Hypnotiseur. Mit aller Kraft halte ich die Augen offen, aber es funktioniert nicht. Mit einem lauten Knall schlägt mein Kopf auf der Bank auf. Blitzartig sitze ich wieder kerzengerade da und spüre, wie mir die Röte in das Gesicht steigt. Nervös streiche ich meine dadurch unordentlichen Haare glatt und schiebe sie hinter die Ohren. Der Professor bleibt abrupt stehen und klopft mit dem Stab auf sein Lesepult, denn es geht ein lautes Lachen quer durch den Hörsaal. Ich könnte mich vor Scham, vor allem wegen der immer weiter aufsteigenden Röte in meinem Gesicht, unter der Bank verkriechen. Sogar Pia dreht sich von mir weg und kann sich kaum beherrschen, um nicht zu lachen. Nach einem weiteren Schlag des Stabes beruhigt sich die Menge, sodass wieder die gewohnte Aufmerksamkeit und Ruhe bei den Studenten einkehrt.

 Mein Herz schlägt mir wie ein Hammer im Hals und ich brauche ein paar Minuten, um mich wiederzufinden. Als ich das einigermaßen geschafft habe, ist die Vorlesung zu Ende und die Studenten machen sich daran, den Hörsaal zu verlassen. Einige gehen kopfschüttelnd an mir vorbei, andere fangen nochmals an zu lachen. Ich sitze einfach nur da und lasse es über mich ergehen. Das ist mir noch nie passiert, auch wenn die Stunden bei diesem Professor immer ausgesprochen langweilig sind.

  Was mache ich hier nur? Ich bin todmüde und übel ist mir auch noch. Hätte ich nicht lieber im Bett bleiben sollen? Warum habe ich es nicht einfach getan? Wen hätte es gekümmert, wenn ich einen Tag nicht da gewesen wäre? Die Fragen kreisen in meinem Kopf, ich bin dankbar, dass Pia sie unterbricht.

  „Wir können jetzt auch gehen“, spricht sie mich an, denn der Saal ist schon menschenleer.

  So packe ich meine Sachen zusammen. Als Letzte gehen wir hinaus, als mir plötzlich richtig übel wird. Mein Magen hängt mir fast in den Kniekehlen und er ist mit dem, was ich am Vorabend zu mir genommen habe, absolut nicht mehr einverstanden. Ich lehne mich an das Geländer vor der großen Treppe, die in die Eingangshalle führt, und versuche gleichmäßig und tief zu atmen. Zusätzlich breiten sich starke Kopfschmerzen aus und mir wird bei dem Blick auf die hinabführende Treppe schwindlig. Pia, die sieht, was los ist, steht sofort neben mir und stützt mich ab.

  „Du hättest heute zu Hause bleiben sollen“, bemerkt sie und schaut mich mitleidig an.

  „Wegen einer Geburtstagsfeier kann ich doch keine Vorlesung schwänzen“, entgegne ich ihr und denke daran, wie ich mir vor kurzem selbst noch die Frage gestellt habe, warum ich es nicht getan habe.

  „Wir hätten am Sonnabend in deinen Geburtstag hinein feiern sollen.“

  „Das wollte ich nicht. Nicht zu meinem Fünfundzwanzigsten.“

  „OK, aber dann hättest du eben nicht so viel trinken dürfen“, ermahnt mich Pia und ich ziehe unter hämmernden Kopfschmerzen einen Schmollmund.

 Daraufhin schiebt sie mich die Treppe, unter dem Arm stützend, hinunter, sodass wir letztendlich auf der Straße vor der Uni stehen. Ich sauge die frische Luft in mir auf. Dadurch beruhigt sich mein Magen etwas, aber der Kopf dröhnt immer noch. Eingehakt bei Pia schlendern wir in das gegenüberliegende Parkhaus. Bei meinem Auto angekommen gebe ich ihr die Schlüssel und lasse mich ohne ein weiteres Wort auf den Beifahrersitz fallen. Mit einem verschmitzten Lächeln steigt Pia ein und startet das Auto. Sie ist immer überglücklich, wenn sie fahren darf, denn sie hat kein eigenes Auto. Das ist auch nicht nötig, denn wenn sie eins braucht, überlasse ich ihr meines gern. Normalerweise bräuchten wir gar kein Auto, denn hier in Dresden kommt man mit der Bahn überall hin und mit den Parkplätzen ist es auch so eine Sache, aber die Bequemlichkeit siegt eben auch bei uns. Wir fahren gerade mal fünf Minuten bis zu unserer Wohnung, die in einem schön renoviertem Altbau direkt an der Elbe ist.

  Wir wohnen nun schon fast drei Jahre zusammen in einer WG. Als wir bei der Wohnungsbesichtigung das erste Mal aufeinandertrafen, haben wir uns von der ersten Sekunde an prima verstanden. Man kann wirklich sagen, wir haben uns gesucht und gefunden. So eine tiefe Freundschaft, die sich daraus bis heute bestandhaltend ergeben hat, hatte ich nicht einmal mit jemandem in meiner früheren Schulzeit.

  Pia parkt meinen Polo vorsichtig vor dem Haus ein und fordert mich mit einer Handbewegung auf auszusteigen. Langsam schiebe ich meine Beine aus dem Auto und dann hilft sie mir wie einer Siebzigjährigen hoch. In meinem Kopf hämmert der Schmerz immer noch furchtbar, mein Magen brüllt nach etwas fester Nahrung, um wahrscheinlich den Restalkohol aufsaugen zu können. Ich schleppe mich hoch in den dritten Stock, wo unsere Wohnung ist und warte, geduldig an den Türrahmen gelehnt, darauf, dass Pia endlich aufschließt. Ich gehe durch den kleinen Flur, an dem Schuhregal und der kleinen Kommode, auf der ich meine Tasche einfach fallen lasse, vorbei. In der Küche lasse ich mich direkt auf einen Stuhl fallen. Ohne etwas gesagt zu haben macht sich Pia sofort daran, mir einen Tee zu aufzubrühen. Gleichzeitig stellt sie Brot, Wurst, Käse und Butter auf den Tisch direkt vor mich hin. Es ist ja auch noch genügend von der gestrigen Feier übrig geblieben. Bei dem Geruch der Wurst wird mir wieder leicht übel, so schiebe ich sie von mir weg und mache mir eine Scheibe Brot mit Käse. Zusammen mit dem Kamillentee, der zwischenzeitlich fertig ist, versuche ich, es irgendwie hinunter zu bekommen. Es gelingt mir mit viel Überwindung. Pia sitzt mir gegenüber und achtet darauf, dass ich wenigstens die eine Scheibe zu mir nehme. Zufrieden darüber, dass ich es geschafft habe, schiebt sie mir eine Tablette über den Tisch.

  „Für die Kopfschmerzen“, meint sie mit hochgezogenen Brauen und spöttisch verzogenen Lippen.

  „Dir kann das nicht passieren“, knurre ich sie an und schaue gleichzeitig beschämt zu Boden.

  „Nö, ich kann mich beherrschen“, kommt prompt zurück, wobei ihr Grinsen noch breiter wird.

  „Wir sprechen uns wieder, bei deinem 25. Geburtstag“, sage ich genervt und kneife meine Augen mürrisch zusammen, um meine Worte damit noch zu unterstreichen.

  „Na, da habe ich ja noch 2 Jahre Zeit“, lacht Pia unbeeindruckt.

  Ich schaue sie immer noch mit halb zugekniffen Augen an, aber mir fällt nichts mehr ein, mit was ich dagegen halten könnte. Die Lust dazu ist auch verschwunden. Ich stehe auf und schleppe mich mit letzter Kraft in mein Zimmer, weil die Tablette mich noch müder macht, als ich schon bin.

  Ich nehme normalerweise keine Medikamente und so kommt die Wirkung natürlich sofort, genauso wie bei dem Alkohol. Ohne weiter zu überlegen falle ich rücklings auf mein Bett und mache die Augen zu. Ich spüre noch wie von weitem, dass mir Pia eine Decke über die Beine legt und leise die Tür schließt.

  „Linda“, höre ich und werde von zwei Händen an meinen Schultern geschüttelt.

  „Ich will nicht“, antworte ich und drehe mich provokativ auf die andere Seite und ziehe mir die Decke bis über die Ohren.

  „Wach auf. Telefon für dich“ drängelt mich Pia mit lautem Ton.

  Langsam und mit Widerwillen setze ich mich auf und reibe mir den Schlaf aus den Augen. Pia steht neben meinem Bett, mir das Telefon hinhaltend.

  „Deine Tante Karin“, sagt sie eindringlich und endlich greife ich nach dem Hörer.

  „Hallo, Tantchen“, flöte ich immer noch schlaftrunken hinein.

  „Meine Liebe. Ich wollte dir noch zu deinem Geburtstag gratulieren. Gestern warst du ja leider nicht erreichbar“, sagt Karin traurig.

  „Wir haben gefeiert und dadurch das Klingeln des Telefons wahrscheinlich überhört. Entschuldigung.“

  „Macht doch nichts. Es ist doch schön, wenn du Freunde hast, mit denen du feiern kannst. Ich hoffe, es war lustig.“

  „Ja, das war es“, sage ich. Nebenbei strecke ich mich und schiebe meine Beine langsam aus dem Bett.

  „Aber nicht zu doll?“, fragt Karin neugierig.

  „Nein“, kommt von mir und wie als Strafe für die Lüge, denn so eine heftige Party hatten wir noch nie, sind meine Kopfschmerzen plötzlich wieder da. Automatisch streifen meine Finger massierend über die Schläfen, am liebsten würde ich mich wieder unter meiner Decke verkriechen und weiterschlafen.

  „Ich habe mich nur gewundert, weil Pia dich wecken musste. Das kenne ich nicht von dir, dass du nachmittags schläfst“, bemerkt Karin.

  „Ich war einfach nur müde, weil wir spät ins Bett gegangen sind“, lüge ich weiter, aber ich kann ja wirklich nicht sagen, dass ich etwas zu viel getrunken habe. Auf die Belehrungen, die darauf kommen würden habe ich einfach keine Lust und ich glaube, dass ich das sowieso nicht mehr machen werde. Ich kenne ja nun die erschreckenden Auswirkungen.

  „Na, dann nochmal alles Liebe und Gute. Auch von deiner Mam.“

  „Danke und wie geht es ihr?“

  „Wie immer. Einmal bekommt sie alles um sich herum mit und dann ist sie plötzlich nicht mehr ansprechbar. Aber es ist wenigstens nicht schlimmer geworden, das ist doch das Wichtigste daran“, sagt Karin bedrückt und ich höre die Last, die sie trägt in ihrer Stimme.

  „Gib ihr bitte ein Küsschen von mir.“

  „Das mache ich. Wann kommst du wieder mal zu uns?“, will sie noch wissen.

  „Vielleicht nächstes Wochenende. Ich melde mich noch mal.“

  „Schön, bis dahin. Tschau meine Liebe“, spricht sie und wird immer leiser.

  „Tschau, bis bald“, antworte ich und schalte das Telefon ab.

  Ich kippe zurück auf mein Bett, die Augen wieder schließend. In meinen Gedanken sehe ich meine Mam, wie schön sie einmal war und wie sie jetzt mit ihrer Krankheit zu kämpfen hat. Sie leidet an Altersvergesslichkeit und hat immer öfters Schwächeanfälle, wie schnell sich dadurch ein Mensch verlieren kann, ist unglaublich. Ich habe mit meiner Mam so viele schöne Zeiten erlebt, die ich immer in meinen Erinnerungen bewahren werde. Sie kann sich an fast nichts mehr erinnern, das zu sehen, tut ziemlich weh. Ich bin das Einzige, was sie hatte. Geschwister habe ich keine und einen Mann wollte meine Mam auch nie haben. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Mam meinte immer, es wäre ein Mistkerl gewesen, der sie schwanger hat sitzen lassen und es jetzt auch nicht verdient hätte, seine hübsche Tochter zu sehen. Ihr komplettes Leben hat sie mir geschenkt. Die ganze Liebe und Fürsorge habe ich allein erfahren dürfen und jeden Wunsch hat sie mir von den Augen abgelesen. Wir waren wirklich auch ohne Mann im Haushalt glücklich. Ich hatte auch nie das Verlangen, nach meinem Vater zu suchen. 

 Als die schwierige Zeit begann, hatte ich gerade mein Abitur gemacht und die Schule beendet. Wir bemerkten, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Sie fühlte sich ständig schlapp und müde, konnte manchmal kaum noch ihre Arbeiten im Haus und Garten verrichten. Das wurde dann immer mehr zu meiner Sache. Sie hat immer wieder und öfter Sachen vergessen. Auch einfachste Dinge, die eigentlich für sie das Normalste auf der Welt waren. Sie konnte nicht einmal mehr allein einkaufen gehen. Entweder hat sie nur die Hälfte mitgebracht oder sie fand gar nicht mehr nach Hause zurück. Nach zahlreichen Untersuchungen haben wir dann die erschütternde Diagnose bekommen. Ich habe darauf bestanden einen Arzt aufzusuchen, denn es konnte nicht mehr so weiter gehen. Von da an hat sich das Blatt für uns gewendet, denn nun war ich für sie da. Ich versuchte, die Liebe und Fürsorge zurückzugeben die ich einst von ihr ohne irgendwelche Bedingungen, bekommen habe. Mit der Hilfe eines Pflegedienstes konnte ich zumindest nebenbei ein paar Stunden arbeiten gehen, denn so langsam wurde das Geld, was wir zur Verfügung hatten, immer weniger. So vergingen die Jahre und mein Traum vom Studieren rückte immer weiter in die Ferne. Das war die negative Seite, aber für mich war immer klar, in ein Heim gebe ich meine Mam nicht. Ich wusste, dass sie das nie gewollt hätte und mir war bewusst, dass es meine Pflicht ist, in vollen Umfang für sie da zu sein.

  Irgendwann bekam ich dann aber doch die Chance auf mein Jurastudium. Es war kein schönes Ereignis, aber ich nahm die Möglichkeit studieren zu können gern an. Onkel Rudi, der immer für mich ein kleines Bisschen wie ein Ersatzvater war, ist plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben. Meine Tante Karin war nun von einem Tag auf dem anderen allein. Sie hatten keine Kinder und so wurde sie von dem Schmerz der Einsamkeit fast erdrückt. Wir haben uns oft zusammengesetzt, über alles geredet und uns gegenseitig geholfen. Bis sie mir eines Tages angeboten hat, sich um meine Mam, ihre geliebte Schwester, zu kümmern. So war sie nicht mehr allein, hatte wieder eine Aufgabe und ich konnte meinen beruflichen Weg gehen. Noch heute bin ich ihr dafür dankbar und das hat uns noch mehrzusammengeschweißt.

  Karin hat ihre Wohnung aufgegeben und ist in unser kleines Häuschen, am Stadtrand von Freiberg, gezogen. Mit der Pflege meiner Mam kommt sie sehr gut zurecht, denn sie ist gelernte Krankenschwester. In ihrer Freizeit versorgt sie sogar noch die Blumen in unserem schönen Garten, die meine Mam mit viel Liebe und Fingerspitzengefühl selbst gezüchtet und aufgezogen hat. Ich hatte es zwar auch probiert, allerdings mit wenig Erfolg. Aber Karins Hände haben den Garten wieder in ein kleines Paradies verwandelt.

  So konnte ich endlich mit 22 Jahren in Dresden, was praktisch um die Ecke ist, anfangen zu studieren. Nun bin ich auch schon im sechsten Semester. Ich fahre in regelmäßigen Abständen nach Hause und jedes Mal überkommen mich auf dem Weg dahin Sorgen, ob es meiner Mam wieder schlechter gehen könnte. Aber in letzter Zeit ist die Krankheit etwas zum Stillstand gekommen, und ich bin immer glücklich, wenn mich meine Mam auf Anhieb erkennt.

 


 

"Als du nicht da warst, hielt unsere Liebe mich fest"

mein 1. Roman

                            

1

 

 Ich spüre, wie eine Hand leicht über mein Gesicht streichelt. „Nell?“, fragt Toni ganz leise.

 „Nein, ich schlafe noch“, flüstere ich zurück und ziehe die Decke bis fast über die Ohren.

 „An meinem ersten Urlaubstag mache ich uns ein schönes Frühstück. Ich fahre nur schnell zum Bäcker, bin gleich wieder da“, meint Toni mit gedämpfter Stimme.

 Ich spüre noch einen zarten Kuss auf meiner Wange und im nächsten Moment höre ich, wie die Zimmertür sich leise schließt. Ich schaue auf die Uhr, die auf dem kleinen Schränkchen neben meinem Bett steht. Es ist gerade 8 Uhr. Noch ein paar Minuten, denke ich mir, drehe mich zur Seite und kuschle mich noch einmal ins Bett. Als ich das zweite Mal auf die Uhr sehe, ist es schon kurz nach halb 9. Alles ist absolut still im Haus. Ich schiebe meine Beine aus dem Bett und stehe auf. Als ich mir den Morgenmantel überziehe, schaue ich noch einmal auf die Uhr. Toni müsste längst wieder da sein, geht es mir durch den Kopf, aber vielleicht sind zum Sonnabend auch viele Menschen beim Bäcker. Noch halb verschlafen und die Augen fast zu stapfe ich hinunter in die Küche. Als Erstes brauche ich einen guten Kaffee. Der kann durchlaufen, bis Toni kommt „denke ich“. Ich fülle die Maschine mit allem, was nötig ist, und drücke den Knopf. Nichts! Noch einmal schalte ich ein und aus, aber es passiert nichts. „Na toll“, denke ich mir, jetzt ist die Maschine wohl kaputt. Der Urlaub fängt ja gut an. Ich probiere es noch einmal, wieder vergebens. Ich drehe mich um und gehe auf die Terrasse, um kurz abzuschalten und zu überlegen, wie ich nun zu meinem Kaffee komme. Die Sonne scheint herrlich. Sie blinzelt durch die Blätter unserer großen Kastanie. Es ist ein Prachtstück und steht genau in der Mitte unseres kleinen Gartens. Ich hole meine Stuhlauflagen aus der Box und mache es mir in meinem großen Liegestuhl bequem.  Kaum sitze ich, habe die Augen geschlossen, um die Sonnenstrahlen auf der Haut zu genießen, da wird es dunkel und auch die wohlige Wärme ist verschwunden. Ich sehe in den Himmel und bemerke, dass eine ziemlich dunkle Wolke die Sonne verdeckt.

 „He, was soll das, geh da weg“, murmle ich für mich. Der Himmel ist überall strahlend blau, nur die eine Wolke wirft ihren Schatten auf unsere Terrasse. Langsam stehe ich auf, mein Blick geht grimmig zum Himmel. Meine Schultern hängen merklich nach unten, wie ein kleines beleidigtes Kind gehe ich zurück in die Küche. Dort hole ich das Tablett vom Küchenschrank, stelle es auf die Arbeitsfläche neben der Spüle und stelle alles darauf, was zu einem guten Frühstück gehört. Honig, Erdbeermarmelade, Butter, Milch und Zucker. Aus dem Oberschrank nehme ich unsere Lieblingstassen heraus. Die haben wir zu unserem ersten Hochzeitstag von Kim geschenkt bekommen und passen genau zu uns. Beide Tassen sind etwas unförmig, aber genau so, dass sie wieder zusammenpassen. Auf der einen steht Ich und Du und auf der anderen Du und Ich. Ich stelle sie mit einem Lächeln auf den Lippen auf das Tablett und versinke in Erinnerungen.

 Kim ist meine beste Freundin und sie war auch unsere Trauzeugin. Ihr Mann Ben ist, wie soll es anders sein, der beste Freund von Toni. Wir vier bilden ein gutes Team, sind immer füreinander da und machen fast alles gemeinsam. Wir spielten schon im Sandkasten zusammen und gingen alle in die gleiche Schule. Auch später, während der Berufsausbildung, verloren wir uns nicht aus den Augen. Toni lernte in Leipzig, Ben in Berlin und ich in Chemnitz. Nur Kim blieb der alten Heimat treu. Jetzt wohnen wir wieder zusammen in Dresden. Nun sind wir alle Ende zwanzig, verheiratet und es haben sich zwei kleine Familien gebildet, allerdings noch ohne Kinder.

 Toni ist erfolgreich in einem Immobilienbüro als Makler tätig und ich habe eine feste Stellung in einem Architektenbüro als Bauzeichnerin. Wir kauften uns vor zwei Jahren dieses kleine Haus in einem ruhigen Stadtteil, etwas abseits vom Trubel der Großstadt. Das Anwesen gefiel uns damals auf Anhieb. Es ist zwar räumlich nicht gerade groß, aber für uns zwei einfach perfekt. Kim und Ben wohnen zwei Straßen weiter. Sie hatten letztes Jahr das Haus von Kims Großmutter geerbt. Kim jobbt nebenbei in einem Drogeriemarkt und Ben ist Angestellter in unserer kleinen städtischen Bank. Jeder von uns hat nun sein eigenes Reich, aber alle sind auch immer offen für die anderen.

 Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als mir eine der Tassen fast aus der Hand rutscht. Vor Schreck bin ich plötzlich putzmunter und stelle die Tasse auf dem Tablett ab. Vorsichtig nehme ich nun das Tablett und bringe es auf die Terrasse. Ein Blick nach oben genügt und ich bin wieder leicht verärgert. Die Wolke ist immer noch da. Ich schaue an mir herunter und bemerke, dass ich noch immer im Morgenmantel bin. Auf dem Rückweg drücke ich in der Küche nochmals die Ein-Taste der Kaffeemaschine, aber es ist zwecklos, es passiert nichts. Ich schüttele den Kopf und laufe die Treppe hinauf. Im Schlafzimmer angekommen, fliegen meine Augen nochmals über die Uhr neben meinem Bett. Es ist nun schon 9 Uhr. Wo bleibt denn Toni, es wird doch wohl nichts passiert sein? Ich wische die Gedanken schnell wieder aus meinem Kopf und lasse den Morgenmantel langsam über die Schultern hinabrutschen. Ich nehme die Jeans, die auf dem Schaukelstuhl liegt, und hänge den Mantel über die Lehne. Echt praktisch, der Schaukelstuhl ist wie ein Kleiderständer. Wenn das meine Schwiegermutter wüsste. Sie hatte ihn uns zum Einzug geschenkt, weil sie von Toni wusste, dass ich mir schon immer einen gewünscht habe. In meinem Kinderzimmer hätte ein solches Teil damals nie Platz gehabt und deshalb war es das perfekte Geschenk für mich. Er sollte eigentlich im Wohnzimmer stehen, doch dort nehmen die anderen Möbel sämtlichen Platz ein. Wie gesagt, unser Häuschen ist wirklich nicht das größte. Letztendlich kam er ins Schlafzimmer und da hat er mehrere Funktionen. Nicht nur als Kleiderständer wird er benutzt. Für mich ist er auch ein Ruhepol nach der Arbeit. Ich sitze gern darin, einfach zum Abschalten, oder ich lese ein Buch. Toni platziert sich nachts darin. Er kann in letzter Zeit nicht gut schlafen und dann sitzt er da, hört über Kopfhörer Musik und beobachtet mich beim Schlafen. Ich merke es immer erst früh, wenn mein Nachtlämpchen aus ist. Ich schlafe oft bei Licht ein, schon seit meiner Kindheit. Woher das kommt, weiß ich nicht, auch meine Mutter konnte mir darauf nie eine Antwort geben. Es ist eben so. Toni hat sich damit abgefunden. Ihn stört es nicht, aber wenn er nachts im Schaukelstuhl sitzt, ist morgens das Licht aus. Er löscht es, wenn er wieder ins Bett geht.

  Ich ziehe meine Jeans an, hole aus dem Schrank ein T-Shirt, streife es über und verlasse das Schlafzimmer. Unten im Badezimmer stecke ich meine Haare hoch, putze mir die Zähne und wasche mein Gesicht. Gerade, als ich mit dem Handtuch mir das Gesicht abtrockne, knallt es. Es ist ein fast unerträglich klirrendes Geräusch. Augenblicklich schlägt mein Herz bis zum Hals und ich spüre, wie mein Blut zu gefrieren droht. Zitternd lasse ich das Handtuch fallen. Das, was ich sehe, ist fast unmöglich. Der Spiegel sieht aus wie ein Spinnennetz, als hätte jemand mit der Faust darauf eingeschlagen. Ich sehe mich plötzlich fast hundert Mal und bemerke, dass nicht ein Splitter herausgefallen ist. Ich wage mich nicht zu bewegen, denn ich will nicht riskieren, dass sich die Scherben auf dem Boden verteilen und ich mich vielleicht noch verletze. Ich stehe wie angewurzelt da, die Zeit hat momentan keine Bedeutung mehr. Als ich in meinen Beinen wieder einigermaßen Stabilität spüre, schleiche ich langsam, ohne den Spiegel oder das, was davon noch übrig ist, aus den Augen zu lassen, aus dem Bad. Ich schließe die Tür, taste mich zur Couch und setze mich am ganzen Körper zitternd hin. Was ist hier nur los, warum passieren nacheinander solche merkwürdigen Dinge? Ich denke mir noch, dass irgendetwas nicht stimmen kann, als es an der Tür klingelt. Nach dem ersten Schreck frage ich mich, warum Toni klingelt. Hat er die Schlüssel vergessen? Das ist nicht seine Art, das ist doch noch nie vorgekommen. Es läutet ein zweites Mal, ich stehe auf und gehe zur Haustür.

 „Moment!“, rufe ich, denn ich muss erst meinen Schlüssel aus der Tasche holen. Mit zitternden Händen schließe ich auf und öffne die Tür.

 „Seit wann vergisst du deinen Schlüssel?“, frage ich und im gleichen Moment erschrecke ich und kann nur noch nach Luft schnappen. Vor der Tür steht nicht Toni, stattdessen schaue ich in die Augen einer düster dreinschauenden Polizistin.

 „Guten Morgen. Ich bin Oberwachtmeisterin Fischer und das ist mein Kollege Wachtmeister Böhme. Sind Sie Frau Hausmann?“, fragt die Beamtin dann doch sehr freundlich.

 „Ja“, kommt es ganz leise über meine die Lippen.

 „Frau Hausmann, leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihr Mann einen Unfall hatte“, sagt der Polizist, der zwei Stufen weiter unten auf der Treppe steht.

 „Toni Hausmann ist doch Ihr Mann?“, fragt wieder die Frau und ich sehe ihr an, wie aufmerksam sie mich beobachtet. Ich bin mir sicher, dass sie sofort bei mir wäre, wenn ich jetzt die Fassung verlieren würde.

 „Ja. Aber er wollte doch nur zum Bäcker und der ist doch gleich hier um die Ecke“, flüstere ich so leise, dass die Polizistin noch ein Stück näher kommt. Ich bin ja froh, überhaupt noch reden zu können, denn mein Hals ist so zugeschnürt, dass kaum noch Luft durchdringen kann. Sie legt mir die Hand auf die Schulter und sieht mich mit einem beruhigenden Blick an.

 „Frau Hausmann, wir würden Sie gern ins Krankenhaus zu Ihrem Mann bringen“, meint der Polizist mit leiser Stimme.

 „Aber was ist denn passiert? Wie geht es Toni? Wo ist er? Warum hat er mich denn nicht angerufen?“, ich finde meine Sprache wieder und mir sprudeln alle Fragen, die in meinem Kopf sind, auf einmal heraus.

 „Wie mein Kollege schon sagte, Ihr Mann ist im Krankenhaus. Er konnte sie nicht mehr anrufen. Ich glaube, er ist ziemlich schwer verletzt“, sagt die Polizistin.

 „Das kann doch jetzt alles nicht möglich sein. Erst passieren mir die merkwürdigsten Dinge und jetzt stehen Sie hier“, ich senke den Kopf und hoffe wahrscheinlich, dass ich noch träume, aber so ist es nicht. So wie die Polizistin mich ansieht, versteht sie meine Worte nicht, sie schaut kurz zu ihrem Kollegen, zuckt mit den Schultern und sagt nur noch: „Wir bringen Sie jetzt zu Ihrem Mann.“

 Wie ein Roboter drehe ich mich um, greife nach meiner Tasche, die an der Garderobe hängt, und stehe auch schon mit dem Schlüssel in der Hand vor der Tür.

 „Frau Hausmann, ich glaube, Sie sollten sich noch ein paar Schuhe anziehen“, über das Gesicht der Polizistin fliegt ein Lächeln. Ich schaue an mir herunter und merke erst jetzt, dass ich immer noch barfuß herumlaufe.  Das ist eine Angewohnheit von klein auf, die ich mir einfach nicht abgewöhnen kann. Ich gehe noch einmal zurück, schlüpfe in meine Sandalen und im nächsten Moment drehe ich schon den Schlüssel in der Tür. Wir gehen unsere kleine Auffahrt hinunter, mein Kopf ist regelrecht vernebelt. Mit jedem Schritt, den ich mich dem Polizeiauto nähere, fällt ein Schleier der Angst um Toni auf mich und hüllt mich ein. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen und steige ohne ein Wort hinten in das Polizeiauto ein. Wir fahren los, ich merke nicht einmal, dass wir in entgegengesetzter Richtung des städtischen Krankenhauses unterwegs sind. Auch die Bemerkung der Polizistin, einen kleinen Umweg zu fahren, damit wir nicht am Unfallort vorbeikommen, weil sie nicht weiß, ob das Auto schon abgeholt worden ist, nehme ich nicht wahr. Ich schaue ziemlich abwesend zum Fenster hinaus, während wir durch unsere Siedlung fahren. Die Häuser rauschen vorbei, spielende Kinder in den Vorgärten, Frauen, die Wäsche aufhängen und Männer, die den Rasen mähen. Alles sehe ich, aber registriere es nicht wirklich.

 Wir fahren auf einen großen Parkplatz, der Wagen hält und die Frau öffnet die Autotür.

 „Frau Hausmann, wir sind da“, spricht sie mich an. Ohne ein Wort zu sprechen steige ich aus und folge der Polizistin. Wir sind vor dem Krankenhaus und mir kommt der Ort so unbekannt und abschreckend vor. Ich war nur einmal hier, das ist Jahre her. Ich hatte mir den Arm gebrochen, vor Schmerzen habe ich damals dieses Gebäude gar nicht richtig wahrgenommen. Kim wollte damals unbedingt ein Trampolin, weil es so in war. Ben kaufte ihr natürlich so ein Gerät. Sie bekam es zum 25. Geburtstag. Als es aufgestellt war, konnte man Kim nicht mehr halten. Sie sprang den ganzen Tag darauf herum wie ein kleines Kind. Es sah so leicht aus und so wollte ich es auch probieren. Wir hatten uns zu einem Grillabend verabredet, und als die Männer sich um die Würstchen kümmerten, sprangen wir wie wild auf dem Trampolin herum. Wenn man zusammen springt und immer gleichzeitig aufkommt, klappt es auch, aber ich kam aus dem Takt. Daraufhin bekam ich so einen Schwung, dass es mich seitlich von dem Ding schleuderte. Ich fiel auf den Rasen und beim Abstützen habe ich mir den Arm gebrochen. Der Abend war gelaufen. Kim und Ben aßen die Würstchen allein und ich saß mit Toni in der Notaufnahme und wartete darauf, dass mir jemand einen Gips verpasste. Kim hat sich tausendmal entschuldigt, aber ich war auch selber schuld. Wir haben uns wie kleine Kinder benommen und manchmal wird das eben bestraft.

 Komplett in meinen Gedanken versunken betreten wir das große Eingangsportal der Klinik. Erst der typische Geruch von Desinfektionsmittel bringt mich zurück in die Realität. Die Polizistin steuert auf die Anmeldung zu. Dort angekommen, fragt sie nach meinem Mann, dem Unfallopfer von vor einer Stunde. Ich stehe regungslos daneben, als ginge es mich nichts an. Die Schwester erklärt, wie wir in die Abteilung kommen. Letztendlich zieht mich die Polizistin am Arm in den Fahrstuhl, wir laufen einen langen Gang entlang, dann stehen wir vor einer großen Glastür. Auf dieser ist ganz groß zu lesen: Chirurgische Abteilung. Plötzlich bekomme ich weiche Knie und mein Magen verkrampft sich. Mir ist speiübel, mein Herz fängt an zu rasen und die Knie knicken leicht ein. Die Polizistin sieht mich entsetzt an und öffnet schnell die Tür zur Station. Sie ruft nach einer Schwester, erklärt ihr kurz, wer ich bin und übergibt mich dem Personal. Ich habe die Augen geschlossen, alles dreht sich um mich und ich höre nur noch aus der Ferne: „Ich melde mich heute Abend oder morgen früh noch einmal telefonisch bei Ihnen. Es gibt da noch andere Dinge, die zu regeln sind.“

 Plötzlich wird es still um mich, ich spüre, wie ich langsam die Kontrolle über meinen Körper verliere und schließlich geben meine Beine komplett nach.